Festschrift - Leporello

Unser Gründer

Dr. Josef Anton Sidler


Ein (fiktives) Interview mit unserem Gründerpräsidenten Dr. Josef Anton Sidler im November 1853

mxk: Vielen Dank, Herr Doktor Sidler, dass Sie bereit sind für unser Jubiläum mit uns zu sprechen.

JS: Ich danke meinerseits, aber das Siezen lassen wir weg. Wir Sängerfreunde duzen uns. Ich bin der Josef. Also, schiess los.

 

mxk: 1850 hast du als erster Präsident und Dirigent den Männerchor Küssnacht gegründet. Du leitest eine Theatergruppe, bist auch noch Dorfarzt, da bist du doch schon genug gefordert. Warum willst du auch noch einen Männerchor im Dorf haben?

JS: Aus Liebe zum Vaterland und zu unserem schönen Dorf, für mich ist es eine patriotische Pflicht. Wir leben in schlimmen Zeiten. Wir brauchen Ermunterung und Ablenkung. 

 

mxk: Schlimme Zeiten? Wie meinst du das?

JS: Unser Schweizer Haus ist bis ins Fundament zerrüttet. Du weisst doch sicher, dass die Schweiz zweimal fast auseinandergefallen ist, einmal in der Reformationszeit und das zweite Mal vor ein paar Jahren wegen des Sonderbundskrieges. Wir sind furchtbar zerstritten. Alle Patrioten, alle Schweizer, denen unser gesegnetes Land am Herzen liegt, müssen jetzt etwas tun, damit wir uns wieder vertragen.

 

mxk: Sonderbundskrieg, da haben sich doch die konservativen und die liberalen Kantone gegenseitig die Köpfe eingeschlagen.

JS: Nicht nur das, die Konservativen haben von den Österreichern und den Franzosen Hilfe angefordert, gegen ihre eigenen Landsleute, das muss man sich mal vorstellen. Die Österreicher standen im Vorarlbergischen schon bereit. Gott sei Dank hat General Dufour den Krieg kurzgehalten, sonst wären die losmarschiert. Wir haben übrigens die Soldaten Dufours in Küssnacht freudig begrüsst. Das ist den Schwyzern in den falschen Hals gekommen.

 

mxk: Wie sieht denn die politisch-wirtschaftliche Lage in Küssnacht aus.

JS. Schlecht. Seit ein paar Jahren gibt es fast keine Kartoffeln mehr. Die Kartoffelfäule wurde von Irland eingeschleppt. Unsere Vieh- und Pferdeexporte laufen nicht mehr wie früher. Die Österreicher sitzen ja in der Lombardei und wollen hohe Zölle von uns, verkaufen halt lieber ihre eigenen Viecher.

Hier haben wir, wie überall in der Schweiz, ein grosses Bevölkerungswachstum, weil wir Ärzte die Kindersterblichkeit besser im Griff haben. Es gibt aber kaum Arbeitsplätze. Wir sind froh, ist Konstantin Siegwart zugezogen. Seine Glaswarenfabrik produziert seit zwei Jahren. Das gibt einigen Arbeit, aber es reicht nirgendswo hin. Die Gersauer sind etwas besser dran, die haben Seidenspinnerei in Heimarbeit.

 

Es rächt sich nun, dass Schwyz Industrie und Gewerbe in ihrem Hoheitsgebiet immer verhindert hat. Wir haben Jahrzehnte Rückstand. Jeder hier kennt Auswanderer. Im Moment sind Südamerika und Kalifornien die Ziele. In Kalifornien hat Sutter Gold gefunden. Stell dir vor, wir haben im Bezirk keine Zeitung, aber es gibt in der Deutschschweiz vier Zeitungen, die sich nur an Auswanderer richten. Das sagt doch alles.

Wir versprechen uns viel vom Reiseverkehr auf die Rigi. Dampfschiffe fahren seit kurzem Küssnacht und Immensee fahrplanmässig an. Es sind einige Gaststätten neu entstanden. Gerade jetzt baut Kaspar Trutmann am Seeplatz ein schönes Hotel, den Seehof.

 

Arth, Vitznau und Weggis sind uns aber voraus. Sie haben sich früher etabliert. Bei uns steigen weniger Reisende aus. Ach, da fällt mir ein. Vor einigen Jahren hat sich hier immer wieder ein seltsamer Kauz sehen lassen, ein griesgrämiger Engländer. Er hat stundenlang See und Berge aquarelliert. Er ist ganz vernarrt gewesen in unsere schöne Innerschweiz. In Luzern im Schwanen hat er logiert. Vor zwei Jahren ist er gestorben. Ich habe erst kürzlich erfahren, dass er in England ein Star war. William Turner war sein Name.   

 

Zurück zur Aktualität. Küssnacht leidet auch am Krach mit Schwyz. Kaum war Napoleon auf St. Helena, wollten die stockkonservativen Schwyzer „Stehchrägler“ das Rad der Geschichte zurückdrehen und die alten Untertanengebiete wieder herstellen. Da hat sich Küssnacht gewehrt. Wir machten im Kanton Ausserschwyz mit. Das haben die Schwyzer nicht akzeptiert und uns kurzerhand besetzt. Sie mussten von den Tagsatzungstruppen vertrieben werden. Seither ist das Tischtuch zwischen Schwyz und Küssnacht zerschnitten

 

mxk: Und wie kommt jetzt der Männerchor Küssnacht ins Spiel?

JS: Nochmals, die Schweiz und der Kanton Schwyz sind in zwei Lager gespalten, die Sieger und die Besiegten, die Liberalen und die Konservativen. Das politische und gesellschaftliche Klima ist vergiftet. So kann es nicht weitergehen. Gemeinsam ist uns doch allen, dass wir unsere Heimat lieben. Wir müssen zusammenfinden, uns treffen, miteinander reden, miteinander feiern. Dafür sind Vereine das beste Mittel. Darum haben wir vor drei Jahren den Männerchor gegründet. 

 

mxk: Du hast angetönt, dass Küssnacht auf der liberalen Seite steht. Dann seid ihr doch im Männerchor unter euch? So tragt ihr doch wenig bei zur Verständigung mit den Konservativen.

JS: Oh nein, es gibt auch bei uns Konservative. Küssnacht hat die neue Schweizer Verfassung 1848 zwar als einzige Gemeinde im Kanton angenommen, mit 280 gegen 182 Stimmen. Wie du siehst, gibt es hier rund ein Drittel konservativ Gesinnte.  Neulich gab es In Immensee beinahe Tote wegen einer Wahl. Es wird also auch bei uns im Verein diskutiert und sogar gestritten. Beim Singen vergessen wir das.

Aber du sprichst etwas Wichtiges an. Wir wollen den Gedankenaustausch und haben uns deshalb im Kanton Schwyz vorgenommen, jedes Jahr ein Sängerfest zu organisieren. So bleiben wir nicht unter uns und feiern auch mit „Andersgläubigen“.

 

Vor drei Jahren hat das erste Sängerfest in Schwyz stattgefunden. Leider konnte ich die Bedenken einiger Chormitglieder nicht zerstreuen. Küssnacht fehlte in Schwyz, nahm stattdessen am Sängerfest in Luzern teil. Beinahe hätte man uns aus der Schwyzer Sängervereinigung geworfen. Darum habe ich mit denen, die mitziehen, 1850 einen neuen Männerchor aus der Taufe gehoben. Ein Jahr später am Sängerfest in Einsiedeln waren wir dann dabei, 1852 in Lachen ebenfalls und heuer haben wir Küssnachter das Sängerfest ausgerichtet. Es ist übrigens interessant, dass bei Ansprachen und Toasts das Thema Politik vermieden wird. Alle bemühen sich zu betonen, was uns eint. Natürlich kommt es am Rande der Feste zu Diskussionen, je nach Alkoholpegel auch zu lautstarken, im Grossen und Ganzen sind die Feste aber wirkliche Höhepunkte in unserem Leben. Sie geben uns Kraft an eine gemeinsame Zukunft zu glauben. Feste zu feiern, tut gut in diesen Zeiten. 

 

Ich möchte aber mehr wissen über euren Sängeralltag. Wie und wo probt ihr?

JS: Uns ist neben dem Singen auch die Geselligkeit wichtig. Wir treffen uns im Säli des Hirschen, dort steht nämlich ein Klavier. Zuerst trinken wir etwas und wenn alle da sind, singe und spiele ich den Sängern ihre Stimme vor, bis sie sitzt. Nach der Probe bleiben wir, genehmigen uns noch ein Bier, diskutieren und tauschen Neuigkeiten aus Dorf und Land aus. Du darfst nicht vergessen, in Küssnacht haben wir keine Zeitung. Vereine und die Treffpunkte im Wirtshaus sind wichtig für uns, um auf dem Laufenden zu bleiben.

 

mxk: Drei Jahre nach Vereinsgründung seid ihr schon verantwortlich für ein Sängerfest, ein wahrer Kraftakt, denke ich. 

JS: Allerdings. Vor allem wenn man die Vorgeschichte kennt.

 

mxk: Erzähle!

JS: 1851 hatte Einsiedeln die Latte für kantonale Sängerfeste schon sehr hochgelegt. Lachen doppelte ein Jahr später nach und führte ein Gewaltsspektakel auf. Es protzte mit bengalischen Illuminationen auf Obelisken, einem Triumphbogen, alles war vom Feinsten – und Teuersten. Der Kantonalverband gab die Losung aus: ab jetzt mehr Bescheidenheit! Diesen Auftrag hat mein Chor gefasst. Wir hatten einen Riesenbammel. Denn was Lachen gezeigt hatte, war für uns unerreichbar. Wir konnten eigentlich nur enttäuschen.

Unsere Befürchtungen haben sich denn auch bewahrheitet. Wir hatten zwar Wetterglück, das Dorf zeigte sich von der besten Seite, Flaggenschmuck überall, auch die extra erstellte Festhütte fand Beifall, aber die angereiste Sängerschar war sich Pomp und Brimborium gewohnt. Die neue Bescheidenheit kam gar nicht gut an. Sie schnödeten über das Essen, verrissen das Rahmenprogramm, es war deprimierend. Item, die Gastchöre verliessen das Fest nach ihren Vorträgen. Das festlich geschmückte Dorf war plötzlich still und öde, ein trauriger Anblick.

Ausgerechnet die Lachner haben dann das Fest gerettet. Sie blieben zurück. Es wurde eine lange Nacht. Wir stellten am Montagmorgen noch eine Festmusik auf die Beine und begleiteten sie bis Immensee. Die Musik kehrte um, doch wir Sänger wollten uns noch nicht trennen. Erst in Zug fand der endgültige Abschied statt. Ob und wie die Lachner am Dienstagmorgen gearbeitet haben, will ich gar nicht wissen. Sicher ist, dass sie nach dieser langen Reise im Wortsinn gerädert waren. Die Strassen in der Innerschweiz sind fürchterlich. In unserem mausarmen Kanton ist schlicht kein Geld für den Unterhalt da und das Reisen mit Pferd und Karren ist eine Tortur.

 

mxk: Was für Lieder sind an eurem Fest gesungen worden?

JS: Unsere Themen sind Vaterland, unsere schöne Natur, Sagenwelt, Geschichte und Glaube. Wenn du willst, kann ich dir die Titel einiger Kompositionen aufzählen, die an unserem Sängerfest aufgeführt worden sind.

 

mxk: Nur zu.

JS: „Gebet“, „Der Schweizer Vaterland“, „Die Riesengletscher“, „Der frohe Wandersmann“, „Freiheit“, „Dem Vaterlande“, „Erneuerung des Rütlibundes“, „Blücher am Rhein“, „Normanns Gesang“, „Schweizer Sängers Heimweh“, wunderbar, gell.

 

mxk: Mmh …

JS: Du bist nicht begeistert? Warum? Gefallen dir die Titel nicht?

 

mxk: Nicht so, ehrlich gesagt, das ist mir zu schwülstig. Ich verstehe jetzt aber, warum ihr solche Literatur singt. Heutzutage könnten wir damit keine Sänger mehr hinter dem Ofen hervorlocken.

JS: Ist das möglich? Das finde ich schade. Seid ihr keine Patrioten mehr? Was singt ihr denn heute?

 

mxk: Oh, wir singen von Spiritual bis Operette, von Englisch bis Rätoromanisch. Ich möchte aber jetzt lieber mehr von euch wissen.  Mich interessiert, wer bei euch so mitsingt. Mir fällt nämlich bei der Mitgliederliste auf, dass bei einigen Sängern, die Berufe angegeben sind, bei anderen nicht. Ist bei euch nur die eher gehobene Schicht vertreten?

JS: Oh, da muss ich die Liste mal anschauen. Tatsächlich, einige Sänger erscheinen mit Berufsbezeichnung, andere nicht.

Ich höre „gehobene Schicht“ nicht gerne. Aber es ist schon so, dass wir gebildete Leute auch eine Verantwortung haben, uns im Dorf und für das Dorf zu engagieren. Ich möchte aber eins betonen. Wir haben hier keine aristokratische Oberschicht. Natürlich haben wir alteingesessene Geschlechter. Die bestimmen aber das Dorfleben nie dermassen, wie es zum Beispiel in Schwyz der Fall ist.

Es ist mir ein Anliegen, dass sich die Dorfbevölkerung trifft und austauscht. Darum engagiere ich mich auch für das Theater. Ich habe einen Herzenswunsch. Ich möchte in Küssnacht den Tell aufführen. Das Stück hat genau die Botschaft, die wir jetzt brauchen.

 

mxk: Da wünschen wir viel Erfolg. Hast du sonst noch Wünsche?

JS: Natürlich möchte ich, dass der Männerchor gedeiht. Das ist offensichtlich so, sonst würden wir uns nicht gegenübersitzen.

 

 

Aber jetzt mal zu euch. Ihr feiert 175 Männerchor. Potzblitz, da haben wir mit der Gründung 1850 einiges richtig gemacht.